Hessischer Bildungsserver / Kulturportal - für hessische Schulen

Rede des Projektleiters Michael Gonszar

Zertifizierungsfestakt  Kulturschulen in Hessen

Verehrte Anwesende, liebe Schülerinnen und Schüler,

lassen sie mich anknüpfen an das eben Gehörte: vom Ich war die Rede, vom Anderssein.

„Die ersten Gedichte, die ich schrieb, waren von mir“,  sagte der Schriftsteller Peter Härtling einmal „ - und auch wieder nicht. Sie redeten nach, was ich zuvor gelesen hatte: Trakl, Rilke, Baudelaire, Brecht. Und dennoch  (so Härtling weiter) war ich überzeugt, sie nähmen alle meine Gefühle, meine Unruhe, meine Widerstände auf und ich gäbe mich mit ihnen preis. Und das traf zu. (…) Die fremden, mir längst vertrauten Gedanken lösten meine Zunge, befreiten Wörter, ordneten meine Sätze, gaben ihnen Halt und den Anschein von Dauer. Jeder, der zu schreiben beginnt, betrügt sich auf diese Weise selbst und kommt so zu sich.“

Härtling schrieb diese Sätze, die die schwierige Balance von Nachahmung und Originalität in der Literatur so treffend beleuchten, in das Vorwort zu einer Anthologie, die 1984 im Verlag Moritz Diesterweg erschien und auf über 200 Seiten die Texte vorstellte, die aus dem ersten schulischen Literaturprojekt des Hessischen Kultusministeriums entstanden waren.  Das Projekt trug den einfachen Namen: „Schüler schreiben.“  Als Titel für die Anthologie wurden drei Zeilen aus dem Gedicht einer Schülerin ausgewählt:

ich schreibe

um zu spüren

dass es mich gibt

Diese Worte markieren einen Ausgangspunkt. Jugendliche, die schreiben, erkunden sich ja durchaus an einer Grenze, erproben ihre Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit sprachlichen Vorbildern. Ein zauberhaftes Beispiel dieses Vorgangs erleben wir in Michael Radford`s Film „Il Postino“, der Geschichte vom einfachen italienischen Postboten, der im großen chilenischen Dichter Pablo Neruda eine Art poetische Hebamme für das Finden seiner eigenen Gefühle und ihrer Umsetzung in Sprache entdeckt.

„Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt - so paradox es klingt - den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern. Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung: dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird. Der Gebildete wird auch durch Poesie ein anderer, und er sieht die Welt danach anders“. (Bieri)

Neben Literatur, Bildender Kunst und Musik hat seit ca. zwanzig Jahren Theaterspiel nicht nur seinen Weg als neues Fach  und Arbeitsbereich in die Schulen gefunden, es  hat auch zwischen den Polen der Nachahmung professioneller Vorbilder und authentischer  und jugendspezifischer Kunstpraxis einen neuen Weg in der Kulturpädagogik gewiesen. Während bei jedem anderen Lerngegenstand didaktische Ziele und eine an meisterlicher Könnerschaft orientierte Qualität ausschlaggebend waren, kam nun die subjektive Komponente zum Vorschein. Sich einen Stoff, ein Thema ein Stück aneignen, eine künstlerische Form finden, aber der Darsteller muss im Dargestellten sichtbar werden, Authentizität ist gefragt. Wann sind Laienschauspieler gut? Wenn sie auf aufregende Weise bei sich selber sind.

Die eigene künstlerische Praxis bekommt so eine ganz neue Bedeutung. Denn sie bietet die Chance, eine Art „Persönlichkeitskultur“ zu entfalten, bei sich zu sein, Kreativität, alternatives Denken und Eigen-Sinn zu entwickeln. Und ausgerechnet die scheinbar so spielerische künstlerische Tätigkeit fordert von Kindern und Jugendlichen einige fast altmodische Arbeitstugenden: Genauigkeit, Ausdauer und diszipliniertes Üben zum Beispiel sind grundlegende Voraussetzungen für künstlerische Entwicklungsprozesse. Ebenso bedeutsam ist die Entwicklung von Teamfähigkeit in der Arbeit an einem gemeinsamen Projekt.

Kulturell und künstlerisch engagierte Schulen müssen mit ihren Aktivitäten und Angeboten  ein Gegengewicht zur Lebenssituation heutiger Kinder und Jugendlicher bieten. „Aufgewachsen in einer „fertigen“ Konsum- und Medienwelt mit einer Flut von Eindrücken, Informationen und Bildern haben Kinder und Jugendliche ausgeprägte Fähigkeiten entwickelt, vieles gleichzeitig zu tun, sekundenschnell zu reagieren, selektiv und assoziativ wahrzunehmen. Mitten im Überangebot der  modernen, vielfach virtuellen Erlebniswelten reduziert sich aber  die Möglichkeit, sich noch in Ruhe auf etwas einzulassen, herauszufinden, was man selber bewegen, gestalten, verändern und kreativ neu erschaffen kann“. (Vogt 2008) Selbst da, wo in unserer Konsum-Welt die nötigen finanziellen Ressourcen vorhanden sind um (scheinbar) alles zu kaufen und zu haben, wächst die Erkenntnis, dass eigene Kunstpraxis, zumal im sozialen Zusammenspiel mit Anderen,  über das Erleben des Entstehungsprozesses sowie die Aufnahme und Wertschätzung des Produkts durch Betrachter, Zuhörer, ein Publikum, Zufriedenheit, ja Glücksgefühle erzeugt, die mit Geld nicht zu kaufen sind.

Teilhabe an Kultur als Möglichkeit „zu spüren, dass es mich gibt“.

Wie aber soll Schule dies leisten? Schule befindet sich in einem institutionellen Zielkonflikt ,  muss  zwischen sich widersprechenden Anforderungsprofilen vermitteln

  • Sie muss Jugendliche einerseits auf kompetentes Handeln in zweckrational ausgerichteten Systemen (Ökonomie, Technik, Wissenschaft, Medien, Politik)

vorbereiten, d.h. funktionales Wissen/Können vermitteln, was „Leistung durch Auslese“, Durchsetzung im Feld von Tauschwertinteressen mit sich bringt.

Demgegenüber besteht die Verpflichtung

  • Sinnkonstitution und Verständigung in Bezug auf Lebenswelt(en) (Persönlichkeit, soziale Verkehrsformen, kulturelle Ausrichtungen ) zu ermöglichen, Schülerinnen und Schülern Lernarrangements zu eröffnen, innerhalb derer sie Antworten auf Fragen finden wie:
  • „Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Ich und Du? Welche Solidaritäten leben wir? Welche Perspektiven bilden wir aus? (Rihm, 2009 Anm. 1)

Wir glauben daran, dass im Kern jeder Bildung Kreativität und Kunst ihr Zuhause haben. Kulturelle Praxis ist ein Mittel, unsere Identität zu begründen  und uns selbst zu verstehen. Nicht die ehrfürchtige Kunstbetrachtung ist unsere Sache, sondern zu lehren und zu lernen, wie wir uns in den  Medien des Theaters, der Musik, der Literatur und der Bildenden Kunst ausdrücken und uns mit uns selbst und der Welt  darin auseinandersetzen können. Die Kunst ist für die Schüler und Schülerinnen da, nicht umgekehrt.

  • „Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können . Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ (Bieri, 2005 Vgl. Anm. 2 )

Diese beiden Säulen des formalen Lernens und des sinn- und selbstgesteuerten  Lernens müssen im System Schule miteinander verbunden und abgestimmt werden

Eine „KulturSchule“  muss genau wissen, wie sie das macht. „Wie sie Bildung  entfaltet im „Spannungsverhältnis von „Entworfen werden“ und „Sich entwerfen“: Aus-Bildung (Wissen und Können) und Perspektiven-Bildung (aktuelle Lebensführung und künftige Lebensperspektive)“ (Rihm 2009), wie sie diese zwei bedeutsamen Qualitäten schulischen Lernens inhaltlich und  organisatorisch miteinander verbindet, versöhnt. Auch ein Kompetenzbegriff muss das in sich aufgenommen haben, bevor er einen Wert für Bildungsprozesse in der Schule hat! ( Vgl. Anm. 3)

Und damit hätten wir ein erstes, ein Haupt -  Kriterium dafür, was eine KulturSchule  von einer kulturell aktiven Schule unterscheidet.

Seit 2008 haben die  fünf „KulturSchulen“ unter dem Motto „Eine Kunst für jeden“ erprobt, wie man die Spielräume und den Stellenwert von Kultureller Bildung in der Sekundarstufe I deutlich erweitern, wie man die ästhetische Dimension der Aneignung von Wissen und Können im Fachunterricht und im fächerübergreifenden Projektunterricht verankert kann.

Die wichtige Erfahrung, dass Lernen nicht passiv und mechanisch verläuft, sondern ein aktiver Vorgang ist, der Kopf, Sinne und Kreativität in gleicher Weise anspricht, ist nicht nur bedeutsam für den Unterricht in Kunst, Musik oder im Darstellenden Spiel. Auch im Unterricht anderer Fächer geht es darum, komplexe Sachverhalte auf sinnlich-anschauliche Art verständlich zu machen, kreatives Denken zu fördern, das Verstandene oder intuitiv Erfasste anders als begrifflich auszudrücken:

Gedichte werden fotografisch gedeutet, Bilder werden zum Schreibanlass, die Situation literarischer Figuren wird in Form eines Standbilds interpretiert, mathematische Strukturen werden zu Musik, die Menschendichte im Raum wird durch ein theaterpädagogisches  Modell untersucht! Kriterium 2:  ästhetische Zugangsweisen, sinnlich-kreatives Lernen in allen Fächern und unterstützende organisatorisch-strukturelle Veränderungen beim  Rhythmisieren der verschiedenen Lernangebote.

Kriterium 3 :   Eine Kunst für Jeden heißt:  alle Schüler haben die Chance, alle Künste in den ersten beiden Jahren einmal kennenzulernen, um sich dann für eine Kunst zu entscheiden und sie sich besonders anzueignen. KulturSchulen müssen alle kunstpraktischen Angebote in einem übersichtlichen Curriculum Ästhetische Bildung geordnet haben, damit Schüler hier ihren eigenen Weg  von Klasse 5  bis 10 gehen können. Dieser Weg wird von den Lehrern aufmerksam  und beratend begleitet; ein künstlerisches Portfolio oder Kulturpass sind an diesen Schulen eine pädagogische Selbstverständlichkeit.

Kriterium 4: Künstler und Kooperationen mit Kulturinstitutionen sind willkommen. Stiftungen und Sponsoren für Kulturelle Projekte sind will kommen, wenn sie sich mit dem Schulprogramm verbinden. Aber: spektakuläre und singuläre Projekte mit Künstlern stehen nicht in erster Linie, sondern Nachhaltigkeit und Kontinuität im Kerngeschäft Unterrichtsqualität, das Vertrauen in das kreative Potenzial aller Lehrer einer Schule. Es ist da, man muss es nur wecken und die entwickeln . Lehrer für künstlerische Ansätze begeistern, für die Geschichten die in ihnen stecken, in die sie ihre Kenntnisse verpacken und sie anschaulich vermitteln können.

"We live in a sea of stories and like the fish who will be the last to discover water, we have our own difficulties grasping what it is like to swim in stories."  (Jerome Bruner)

Nicht eine spezialisierte Theater AG. und ein herausragendes Orchester, geleitet von  einzelnen isolierten Lehrern sind gefragt, sondern, Kriterium 5: die Kooperation aller Lehrer, besonders natürlich im künstlerisch-sprachlichen Aufgabenfeld. Was tun wir alle zusammen für eine ästhetische Kompetenz unserer Schüler, für die Notwendigkeit, dass unsere Schüler einen  Entwurf von sich selbst aus unserer Schule mitnehmen,  dass sie mit ihrem Wissen und Können etwas anzufangen wissen, in Bezug auf sich und die Welt, dass sie spüren, dass es mich gibt? Von der befriedigenden Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob Schule gelingt.

Anmerkungen

1. Thomas Rihm, PH Heidelberg: Sich kulturell Bilden  - Schulentwicklung entlang der Konfliktlinie zwischen  Standardisierungen und Sinnkonstitution (Vortrag Weilburg 2009, Q 5 Modul der Hess. Schulentwicklungsmaßnahme „KulturSchulen“)

2. . vgl auch: https://blog.karlshochschule.de/2009/07/21/peter-bieri-wie-ware-es-gebildet-zu-sein/

3. Nicht nur wegen der Persönlichkeitsbildung, sondern auch wegen des berufstauglichen Aspekts von kultureller Bildung. Der Leiter der Bundesakademie für Kulturelle Bildung, Karl Ermert, ( http://www.bpb.de/themen/JUB24B,0,0,Was_ist_kulturelle_Bildung.html ) hat vor kurzem in einem grundsätzlichen Text zur Begriffsklärung für das Dossier der Bundeszentrale für Politische Bildung auf folgendes hingewiesen:

Die ökonomischen Tauglichkeiten ästhetisch kultureller Bildung müssen positiv wahrgenommen werden. Auch künstlerisch kulturelle Bildung produziert Fähigkeiten, die arbeitsmarktrelevant sind. Und natürlich darf mit Selbstbewusstsein auch darauf hingewiesen werden, dass Kultur- und Kreativwirtschaft eine für viele überraschend hohe Wertschöpfung erwirtschaften und dass der Arbeitsmarkt der Kulturberufe im Unterschied zu den meisten anderen Teilarbeitsmärkten in den letzten zehn Jahren eine enorme Expansion erlebte.

"Im Jahr 2008 existierten in der Kultur- und Kreativwirtschaft rund 238.300 Unternehmen und Selbständige. Sie erzielten zusammen ein Umsatzvolumen von insgesamt 132 Milliarden Euro und konnten rund 763.400 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einen Voll- oder Teilzeitarbeitsplatz bieten. Zusammen mit den Selbständigen arbeiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland rund eine Million Erwerbstätige. Insgesamt konnte die Kultur- und Kreativwirtschaft damit im Jahr 2008 schätzungsweise einen Beitrag in Höhe von rund 63 Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung leisten" (nach Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland (2009), S. 5). Damit liegen Kultur- und Kreativwirtschaft nach der Bruttowertschöpfung hinter der Autoindustrie, aber vor der Chemischen Industrie und der Energiewirtschaft. Eine fast unüberschaubare Zahl von Kulturwirtschaftsberichten auf Länderebene und auch von Kommunen bestätigt die Bedeutung der Kulturwirtschaft immer wieder neu.“